Es gibt vieles, was wir über die neue COVID-19-Variante nicht wissen — aber alles, was wir bisher wissen, deutet auf eine große Gefahr hin.
ZEYNEP TUFEKCI (Original auf Englisch, hier verfügbar: https://www.theatlantic.com/science/archive/2020/12/virus-mutation-catastrophe/617531/)
Diese Übersetzung ist ein erster Entwurf und wird laufend verbessert. Kommentare zu besserer Übersetzung/Fehlern sind gewünscht!
DEZEMBER 31, 2020
Eine neue Variante des Coronavirus breitet sich über den Globus aus. Es wurde zuerst im Vereinigten Königreich identifiziert, wo es sich schnell ausbreitet, und wurde in mehreren Ländern gefunden. Viren mutieren ständig, oft ohne Auswirkungen, aber diese Mutation scheint übertragbarer zu sein als andere Varianten — das heißt, sie verbreitet sich leichter. Kaum einen Tag, nachdem die Behörden bekannt gaben, dass der erste Fall der Variante in den Vereinigten Staaten gefunden worden war, bei einem Mann aus Colorado, der keine Reisevorgeschichte hatte, wurde ein weiterer Fall in Kalifornien gefunden.
Es gibt noch viele Unbekannte. Anfangs gab es viele Sorgen, dass diese neue Variante die Wirksamkeit des Impfstoffs beeinträchtigen oder schwerere Krankheitsverläufe verursachen könnte. Mittlerweile gibt es in diesem Hinblick eine gewissen Erleichterung, nachdem eine erste Studie gezeigt hatte, dass beides nicht der Fall war. Und obwohl wir mehr Daten benötigen, um wirklich beruhigt zu sein, glauben viele Wissenschaftler, dass diese Variante die Wirksamkeit des Impfstoffs nicht wesentlich, wenn überhaupt, verringern wird.
Alles gut und kein Grund zur Beunruhigung, stimmt’s? Falsch!
Eine übertragbarere Variante von COVID-19 ist eine potenzielle Katastrophe an und für sich. Wenn überhaupt, dann ist in Anbetracht des Stadiums der Pandemie, in dem wir uns befinden, eine leichter übertragbare Variante in gewisser Weise viel gefährlicher als eine schwerere Variante. Das liegt daran, dass eine höhere Übertragbarkeit uns einem ansteckenderen Virus aussetzt, das sich mit exponentiellem Wachstum ausbreitet, wohingegen das Risiko durch einen höheren Schweregrad linear ansteigen würde und lediglich die Infizierten betreffen würde.
Eine erhöhte Übertragbarkeit kann in sehr, sehr kurzer Zeit Verwüstung anrichten — vor allem, wenn wir bereits eine unkontrollierte Ausbreitung in weiten Teilen der Vereinigten Staaten haben. Die kurzfristigen Auswirkungen all dessen sind signifikant und sollten beachtet werden, auch wenn wir auf mehr Klarheit der Daten warten. In der Tat sollten wir schnell handeln, vor allem wenn wir auf mehr Klarheit warten — der Mangel an Daten und die Gefahr eines noch schnelleren exponentiellen Wachstums sprechen für die Dringlichkeit des Handelns. Wenn und sobald mehr beruhigende Daten eintreffen, wird es einfacher sein, Beschränkungen zu lockern, als den Schaden rückgängig zu machen, der dadurch entstanden ist, dass man nicht rechtzeitig reagiert hat.
Um den Unterschied zwischen exponentiellen und linearen Risiken zu verstehen, betrachten Sie ein Beispiel von Adam Kucharski, einem Professor an der London School of Hygiene & Tropical Medicine, der sich auf mathematische Analysen von Infektionskrankheitsausbrüchen konzentriert. Kucharski vergleicht eine 50-prozentige Erhöhung der Letalität des Virus mit einer 50-prozentigen Erhöhung der Übertragbarkeit des Virus. Bei einer Virusreproduktionsrate von etwa 1,1 und einem Sterberisiko von 0,8 Prozent kann man sich 10.000 aktive Infektionen vorstellen — ein plausibles Szenario für viele europäische Städte, wie Kucharski anmerkt. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge würden wir bei diesen Zahlen 129 Todesfälle in einem Monat erwarten. Würde die Sterblichkeitsrate um 50 Prozent steigen, würde das zu 193 Todesfällen führen. Im Gegensatz dazu würde eine 50-prozentige Erhöhung der Übertragbarkeit zu satten 978 Todesfällen in nur einem Monat führen — unter der Annahme, dass die Infektionszeit in beiden Szenarien sechs Tage beträgt.
Eine Erhöhung der Übertragbarkeit kann schnell — sehr schnell — zu einer Ausweitung der Grundlinie führen: Jede neue infizierte Person infiziert potenziell viele weitere Menschen. Schweregradsteigerungen betreffen nur die infizierte Person. Diese Infektion ist sicherlich tragisch, und das Fehlen einer Erhöhung des Schweregrads oder der Letalität bei dieser neuen Variante bedeutet glücklicherweise, dass die Variante keine größere Bedrohung für die Person darstellt, die sich infizieren könnte. Sie ist jedoch eine größere Bedrohung für die Gesellschaft, weil sie die Anzahl der infizierten Menschen dramatisch verändern kann. Anders ausgedrückt: Ein kleiner Prozentsatz einer sehr großen Zahl kann leicht viel, viel größer sein als ein großer Prozentsatz einer kleinen Zahl.
Ich habe die Nachricht zunächst abgetan, weil Viren ständig mutieren und es in diesem Jahr schon zu viele unbegründete “Mutanten-Ninja-Virus”-Schlagzeilen gab, die den Untergang heraufbeschworen. Die übertriebene, klickbare Panikmache erschwert es, echte Bedrohungen von Sensationsmache zu unterscheiden. Angesichts der ständigen Realität der Mutation sollten genomische Varianten als unschuldig gelten, bis ihre Schuld bewiesen ist. Selbst ein Anstieg des Anteils der Fälle, die auf eine bestimmte Variante zurückzuführen sind, ist kein definitiver Beweis für einen evolutionären Vorteil.
Da jedoch immer mehr Daten über die neue Variante eintrudeln, gibt es Grund zur Sorge. Trevor Bedford, Wissenschaftler am Fred Hutchinson Cancer Research Center und Vorstandsmitglied des Covid Tracking Project bei The Atlantic, weist darauf hin, dass Infektionen durch die neue Variante in der Bevölkerung in Großbritannien sehr schnell zunehmen. Bedford merkt außerdem an, dass diese neue Variante im Vergleich zu “normalem” COVID-19 eine höhere Sekundärinfektionsrate zu haben scheint — d. h. die Anzahl der Menschen, die anschließend durch einen bekannten Fall infiziert werden. Schließlich scheint die neue Variante zu einer höheren Viruslast zu führen (obwohl dies schwieriger ist, sicher zu sein, da die Viruslast durch Stichprobenverzerrungen und Timing beeinflusst werden kann). Wie Kucharski sagte, schließt dies alles andere Erklärungen nicht aus. Diese erhöhte Übertragung könnte auf Zufall oder Gründereffekte zurückzuführen sein — was bedeutet, dass eine Variante einfach zufällig vor den anderen Varianten auftauchte und dann “Glück” hatte; sie war eher früh, als dass sie übertragbar war. Es könnte an einem veränderten Verhalten der Menschen liegen — Quarantänemüdigkeit, weniger Maskierung — was zu einer schnelleren Verbreitung führt. Angesichts der aktuellen Beweise und der Besonderheiten der Mutation wird es jedoch immer schwieriger anzunehmen, dass diese anderen Erklärungen wahrscheinlicher sind als die einfache Behauptung, dass es sich wirklich um eine übertragbarere Variante handelt.
Wie viel mehr übertragbar ist sie also? Wir sind uns noch nicht ganz sicher, aber die ersten Schätzungen aus den Daten deuten darauf hin, dass diese Variante etwa 50 bis 70 Prozent mehr übertragbar sein könnte als das normale COVID-19. Um die Sache noch düsterer zu machen, wissen wir noch nicht genau, warum sie übertragbarer ist, obwohl vernünftige Theorien bereits getestet werden. Diese Variante, die jetzt B.1.1.7 genannt wird, hat “eine ungewöhnlich große Anzahl von genetischen Veränderungen, insbesondere im Spike-Protein”, mit dem das Virus in unsere Zellen eindringt. Die neue Variante ist möglicherweise besser in der Lage, unserer Immunreaktion zu entgehen und sich zu vermehren, oder sie kann sich besser an Stellen in unserem Körper binden, die für die Ansteckung anderer förderlich sind, aber das ist im Moment alles nur spekulativ.
Diese Ungewissheit im Verständnis der genauen Mechanismen der Variante bedeutet, dass wir nicht wissen, ob unsere bestehenden Hilfsmittel — Masken, Distanzierung und Desinfektion — im Vergleich zu einem identischen Szenario mit der regulären Variante genauso effektiv sind. Um es klar zu sagen: Die Variante ist immer noch ein Atemwegsvirus, also ändern sich die grundlegenden Werkzeuge nicht, und sie werden alle weiterhin funktionieren. Sie sind sogar noch wichtiger geworden, aber wir müssen vielleicht strenger sein — weniger Zeit in geschlossenen Räumen, bessere Masken, bessere Belüftung, mehr Desinfektion von Oberflächen, mit denen wir häufig in Berührung kommen — um das gleiche Ergebnis für unsere Schutzmaßnahmen zu erzielen. Es kann ein kleiner Unterschied sein, oder auch nicht. Wir wissen es nicht. Wir werden es für eine Weile nicht wissen.
Sind wir angesichts der Tatsache, dass es diese neue Variante in Amerika bereits gibt, zu spät dran? Nein, aber wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Die Vereinigten Staaten verfügen nicht über eine umfassende genomische Überwachung oder eine schnelle Umsetzung der vorhandenen Überwachung, so dass wir in gewisser Weise ohne eine Karte fliegen. Wir haben einige Hinweise darauf, dass die Variante — bis jetzt — in den Vereinigten Staaten wahrscheinlich relativ selten ist.
Das kann sich natürlich extrem schnell ändern, bevor wir diese Veränderung überhaupt erkennen können, aber das unterstreicht die Wichtigkeit eines frühzeitigen Handelns. Zusätzlich zur Gefahr des exponentiellen Wachstums müssen wir bedenken, dass dieser Erreger ziemlich übermäßig verbreitet ist — das heißt, einige Menschen scheinen viele Infektionen zu verursachen, während viele ihn gar nicht übertragen (wobei sich diese Verhältnisse auch ändern können). Schon früh gab es viel Händeringen darüber, warum einige europäische Städte sehr stark betroffen waren, während andere verschont blieben — oft erst später, wie sich herausstellte — trotz ähnlicher Maßnahmen. Die Antwort könnte einfach ein bisschen Pech und ein paar Wochen Verzögerung sein: Bei exponentiellen Prozessen können kleine Anfangsunterschiede auf lange Sicht gigantische Unterschiede bedeuten, und wir sind nicht hilflos.
Wir können und sollten alle Waffen einsetzen, die wir in unserem Arsenal haben, und zwar so schnell wie möglich. Wenn Beamte des öffentlichen Gesundheitswesens unsere Fähigkeit, die neue Variante zu erkennen, beschleunigen können, müssen sie es tun. “Sie könnten sich fallbasierte Interventionen vorstellen, die speziell auf die frühen Varianten-Übertragungsketten abzielen”, sagte mir Bedford. “Ich würde nicht erwarten, dass wir sie eindämmen können, aber ich könnte mir vorstellen, ein oder zwei Wochen zu gewinnen.”
Eine Woche oder zwei mag nicht viel erscheinen, aber in Kombination mit anderen aggressiven Maßnahmen für die öffentliche Gesundheit könnten wir tatsächlich ein paar zusätzliche Wochen gewinnen. Vielleicht könnte all das die flächendeckende Etablierung dieser neuen Variante bis Februar oder sogar März verzögern.
Dieser Moment ist in gewisser Weise vergleichbar mit Amerikas anfänglichem COVID-19-Anstieg und der Abschaltung im März. Wir müssen erneut über die Wichtigkeit der Abflachung der Kurve sprechen. Wir müssen erneut die Krankenhauskapazitäten aufrechterhalten, damit unsere Sterblichkeitsrate nicht ansteigt. Aber dieses Mal können wir viel hoffnungsvoller sein: Wir müssen die Kurve abflachen, denn eine Verzögerung potenzieller Infektionen um nur ein paar Wochen oder einen Monat kann einen enormen Unterschied machen, wenn hochwirksame Impfstoffe auf den Markt kommen.
Wir befinden uns in einem Wettlauf gegen die Zeit, und das Virus scheint eine unglückliche Fähigkeit zum Sprinten zu entwickeln, gerade wenn wir uns der Ziellinie nähern. Obwohl die Impfstoffe anfangs nur langsam eingeführt werden, wird erwartet, dass die Zahl der Impfungen schnell zunimmt. In den USA könnten bereits im März 50 bis 100 Millionen Menschen geimpft sein. Das ist ein enormer Unterschied, der viele Leben retten könnte, zumal wir vielleicht auch so viele Menschen mit einem gewissen Grad an postinfektiöser Immunität haben.
Hier ist, wie man darüber denken kann: Geimpfte Menschen haben eine viel geringere Wahrscheinlichkeit, überhaupt erst krank zu werden. Hundert Millionen geimpfte Menschen bedeuten 100 Millionen Menschen mit einem viel geringeren (oder kaum vorhandenen) Risiko für eine symptomatische COVID-19-Erkrankung, insbesondere für eine schwere Erkrankung. Das ist ein enormer Gewinn.
Aber das ist noch nicht alles. Impfstoffe nützen nicht nur den Geimpften, sondern potenziell auch allen anderen. Weniger Menschen, die symptomatisch an einem ansteckenden Virus erkranken, bedeuten weniger kranke Menschen, die noch mehr Menschen anstecken. Alles, was wir wissen, deutet darauf hin, dass geimpfte Menschen auch weniger übertragen werden — wie viel weniger, wird noch untersucht, aber der Unterschied könnte durchaus erheblich sein. Die mRNA-Impfstoffe (beide bereits in den USA zugelassen) reduzieren die symptomatische Erkrankung um etwa 95 Prozent. Wir wissen bereits, dass Menschen, die nie eine symptomatische Krankheit entwickeln, viel weniger wahrscheinlich COVID-19 übertragen. (Man beachte den Unterschied zwischen Menschen, die wirklich asymptomatisch sind, und Menschen, die kurz davor sind, krank zu werden — präsymptomatisch -, aber hochinfektiös sind). In einer vorläufigen Studie wurde festgestellt, dass der Moderna-Impfstoff sogar zwei Drittel der asymptomatischen Infektionen verhindert. Geimpfte Menschen haben also nicht nur eine viel geringere Wahrscheinlichkeit, überhaupt zu erkranken, sondern auch eine viel geringere Wahrscheinlichkeit, eine stille, asymptomatische Infektion zu bekommen. Obwohl wir mehr Daten benötigen, um sicher zu sein, deutet all dies stark darauf hin, dass geimpfte Menschen auch weniger Krankheiten übertragen werden. Je weniger Menschen es gibt, die einen Erreger effizient übertragen können, desto schwieriger ist es für diesen Erreger, sich zu verbreiten.
Vielleicht — nur vielleicht — stellt sich diese Variante als Fehlalarm heraus, nicht annähernd so übertragbar wie befürchtet. Wir werden es früh genug erfahren. Unsere Vorsichtsmaßnahmen werden sich immer noch als positiv erweisen. Aber wenn sie tatsächlich viel übertragbarer ist, könnte uns eine wahre Tragödie bevorstehen: ein exponentielles Wachstum mit einer massiven Anzahl von Erkrankungen und Todesfällen, während gleichzeitig hochwirksame Impfstoffe zur Verfügung stehen. Wir hatten ein Jahr Zeit, um zu lernen — wie wichtig es ist, frühzeitig zu handeln, entschlossen zu agieren, auch im Angesicht von Ungewissheit, und das Fehlen von Beweisen nicht mit dem Beweis des Fehlens zu verwechseln. Ein Jahr, in dem wir gelernt haben, nicht nach Perfektion im Wissen zu streben, sondern nach maximaler Wirkung, auch wenn wir die Kompromisse in Betracht ziehen. Und vor allem ein Jahr, in dem wir lernen, nicht zu warten, wenn wir mit Bedrohungen konfrontiert werden, die eine exponentielle Dynamik aufweisen, sondern so früh und entschlossen wie möglich zu handeln — und später zu korrigieren und zu manipulieren, wenn dies gerechtfertigt ist.
“Exponentiale sind so grausam, dass ihnen niemand in die Augen sehen will”, sagte mir Morris. Das ist wahr, aber wenn wir die Augen abwenden, wendet das nicht die Folgen ab. Jeder von uns zählt jetzt auf jede Person, die im Dienste der Öffentlichkeit steht — Bürgermeister, Stadträte, Gesundheitsbeamte, Krankenschwestern, FDA-Behörden, Mitglieder des Kongresses, Journalisten — dass sie sich jetzt zu Wort meldet, und zwar lautstark. Wir müssen auf schnelles und aggressives Handeln bestehen, zusammen mit mehr Ressourcen, um dies richtig zu machen. Es ist noch nicht zu spät. Viele Leben hängen davon ab, was wir als nächstes tun.
ZEYNEP TUFEKCI ist Autorin bei The Atlantic und außerordentliche Professorin an der University of North Carolina. Sie untersucht die Wechselwirkung zwischen digitaler Technologie, künstlicher Intelligenz und Gesellschaft.